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Entdeckungsreise zum Glück Reisebericht von der Bhutan-Reise mit WisdomTogether im März 2020

„…Verwandle die Fremde in Heimat“

– das hatte Alfred unserer Gruppe vor dem Aufbruch mit auf den Weg gegeben. Und er zitierte Simone de Beauvoir, unwissend, dass diese Worte mit unserer Rückkehr eine völlig unerwartete Intensität bekommen sollten: „Vielleicht wissen nur sehr aktive oder sehr ehrgeizige Menschen von diesen Pausen, in denen die Zeit plötzlich still steht und die eigene Existenz mit der Fülle (…) verschmilzt!“. Mit dieser herzlichen Widmung im Sinn hatte sich unsere Truppe voller Vorfreude Anfang März in Bangkok getroffen, um zusammen nach Paro im Westen von Bhutan zu fliegen.

Bhutan, ein Schwellenland mit sehr einfachen Lebensstandards in der Zangenlage zwischen China und Indien, ist seit etwas mehr als 100 Jahren ein Königreich mit 700 000 Einwohnern. Der 4. König trat 2006 ab – nicht nur, um den Thron seinem Sohn zu überlassen, sondern um einen für die politische Stabilität wichtigen Demokratisierungsprozess für die heutige konstitutionelle Monarchie einzuleiten. Schon in den 70er Jahren hatte er eine Vision erschaffen, die sich seit 2008 in der Verfassung manifestiert: Ein auf das Gemeinwohl ausgerichtetes Gesellschaftsmodell, mit dem sich die Regierung ein ganz eigenes Tempo für seine Entwicklung definiert. Das Maß für Wachstum sind nicht die üblichen monetären Kennzahlen globalisierter Volkswirtschaften, sondern der in der Bevölkerung regelmäßig erhobene Glücks-Index.  Wir tauchten in den 6 Tagen tief in das Alltagsleben ein, um die vier Säulen dieses „Gross-National-Happiness-Modells“ (abgekürzt GNH) zu erleben und zu verstehen:

Blick auf die Stadtfestung (Dzong) von Paro vor Himalaya-Kulisse

Buddha Point in Thimphu, der Hauptstadt von Bhutan

Stadtfestung (Dzong) von Punakha

Erste Säule : Sozial nachhaltige und gerechte Gesellschafts- und Wirtschaftsentwicklung

Gleich nach der Ankunft werden wir von zwei gut gelaunten, motivierten Mitarbeitern unseres Tour Operators „MyBhutan“ begrüßt. Touristen, die auf eigene Faust durch das Land reisen, gibt es nicht. Die verpflichtende Visum-Gebühr pro Tag deckt eine Rundum-Betreuung ab: Führung und Eintritt zu allen touristischen Hotspots, Transport, Hotel-Übernachtung, Verpflegung mit 3 Mahlzeiten. Wir erleben, wie sehr sich die Menschen in Bhutan für die Touristen und ihr Land einsetzen, angetrieben von dem einfachen Motto: „Hohe Wertigkeit, geringe Auswirkung“ (für Natur und Kultur des Landes). Die Hotels sind modern und komfortabel, das Essen ist reichhaltig und schmackhaft (mit nicht ganz so viel Chili, wie die Einheimischen in ihr Essen tun). Tourismus ist ein zentraler Wirtschafsmotor und die zweitwichtigste volkswirtschaftliche Einnahme-Quelle in Bhutan. Choki, unser Tour Guide, vermittelt uns mit Leidenschaft Kultur und Natur im Land. Kunzang, unser Bus-Fahrer, still und sehr konzentriert, bringt uns immer sicher über die kurven-reichen Gebirgspässe auf dem zweispurigen „Highway“ voran. Wir lernen im Gespräch mit Choki, dass es den Menschen in Bhutan wichtig ist, ihre Zeit sinnvoll für sich und ihre Gemeinschaft einzusetzen – und dass dabei ihre individuellen Bedürfnisse auch wichtig sind. Eine wichtige Frage im Volkszensus, mit dem die Regierung alle 5 Jahre den „Glücks-Index“ erfasst, ist die nach der persönlichen Nutzung von Zeit: Wieviel Zeit verwendet man für Arbeit und persönliches Einkommen,  für die Familie, für die Gemeinschaft. Ja, auch wieviel Stunden Schlaf hat man. Pünktlichkeit und Effizienz sind in Bhutan keine erstrebenswerten Ziele. Es zählt, wofür man sich im Moment einsetzt – und für das Wohlergehen der Touristen geben Sie viel persönlichen Einsatz – und wir sind glücklich und erfüllt.

Zweite Säule: Bewahrung der Kultur und spiritueller Traditionen in einer vitalen Gemeinschaft

Auf dem Weg zur Stadtfestung Punakhas spüren wir eine ganz besondere Aufregung, die die Einwohner der Stadt an unserem ersten Morgen erfasst. Wir sehen viele Menschen, die sich zu Fuß oder dicht gedrängt mit der ganzen Familie im Auto oder Kleinbus zu der beeindruckenden Burg begeben – alle festlich gekleidet in ihren farbenfrohen, oftmals selbst gewebten lokalen Trachten. Tempelfeste wie das Tsechu in Punakha sind gesellschaftliche Ereignisse, wofür die Menschen von den entlegensten Tal- und Berg-Siedlungen zusammenströmen. Mit bunten Kostümen und Masken werden geschichtlich wichtige Eroberungen nachgestellt sowie Mythen und Legenden aus buddhistischen Schriften in ausdrucksvollen Tänzen übersetzt. Man trifft sich mit Familien und Freunden, hat sein Picknick und Sitzmatten dabei. Man sieht sich, man tauscht sich aus, die Kinder toben ausgelassen umher oder verfolgen mit Schauer und Staunen die mit den Tänzen erzählten Geschichten. Junge Frauen werden von rotgesichtigen Teufeln oder siegreichen Krieger-Figuren gefoppt. In Bhutan pflegt man einen sehr unkomplizierten Umgang mit dem Gebrauch von Phallus-Symbolen, insbesondere in Punakha, wo man dem sexuell sicherlich umtriebigen buddhistischen Yogi im Himalaya aus dem 15. Jahrhundert einen Fruchtbarkeits-Tempel gewidmet hat. Wir brauchen niemanden, der uns den theoretischen Überbau des tibetischen Buddhismus erklärt: Wir spüren, wie die Menschen ihre Spiritualität im Alltag, im Miteinander in ihr Leben integrieren. Die Stimmung ist genauso ausgelassen und für das soziale Leben wertvoll, wie auf Weinfesten oder auf Musikfestivals bei uns zu Hause – hinzu kommt die unermessliche Farbenpracht und das Dekor einer tief  verwurzelten Jahrhundertealten Tradition, die immer noch sehr lebendig ist – und nicht nur für die Touristen zelebriert wird.

Festbesucher im Dzong von Punakha

Maskentänze im Dzong von Punakha

Festbesucher im Dzong von Punakha 2

Dritte Säule: Bewahrung des ökologischen Gleichgewichts

Punakha ist ein Ort, an dem sich zwei gewaltige Flüsse treffen – der Weibliche und der Männliche Fluss. Punakha ist ein beliebter Ort für River-Rafting. Die Flüsse in Bhutan haben alle ihren Ursprung im Himalaya-Gebirge und münden in die großen nordindischen Flussarme – und erzeugen damit die wichtigste und umweltfreundliche volkswirtschaftliche Einnahme-Quelle des Landes, Strom aus Wasserkraft. Bhutan ist das einzige Land auf der Welt mit einer negativen Kohlenstoff-Bilanz: Die Ausbreitung von luftverschmutzender Industrie wird rigoros von der GNH-Kommission überwacht.  Auch wird sichergestellt, dass mindestens 60 % des in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts erfassten Waldbestandes erhalten bleibt. Ein besonders Naturerlebnis ist für uns eine ausgedehnte Wanderung zwischen Punakha und Thimphu, in einem Zauberwald von Rhododendron-Bäumen: Auf den Passhöhen kurz vor der Baumgrenze wachsen riesige baumhohe Büsche aus knorrigen, dick bemoosten Stämmen, die im März/ April das Vorgebirge Bhutans in ein Blütenmeer verwandeln. Uns ist es vergönnt, die ersten Blüten-Stauden zu erleben.

Vierte Säule: Gute Führung

Es ist der dritte Morgen unserer Reise in Bhutan, als auch unsere Gruppe und das Land Bhutan die Ausbreitung der Corona-Epidemie zu spüren bekommt: Ein amerikanischer Tourist wird in der Nacht vom 5. auf den 6. März als erster Patient im Land positiv getestet. Die Regierung, Behörden und Unternehmen in Bhutan sind auf diesen Moment vorbereitet. Ab sofort reisen keine Touristen mehr ein und die Schulen bleiben seitdem geschlossen. Restaurants und Geschäfte folgen bald. Quarantäne-Einrichtungen sind sofort einsatzbereit. Eine beeindruckende Erfahrung ist die unter den Menschen vorhandene Achtsamkeit sowie der liebende Respekt für die Regierung, insbesondere für den 5. König im Land. Die Einheimischen leisten ohne Murren ihren Beitrag, für uns verbliebene Touristen den Aufenthalt auch weiterhin so komfortabel wie möglich zu gewährleisten. Für den Tourismus hat die Einreise-Sperre, die bis auf weiteres andauern wird, Existenz-bedrohende Auswirkungen. Was aber zählt, und auch in den lokalen Sozialen Medien spürbar war (die Bhutanesen sind bestens vertraut mit facebook und WeChat):  die Stärkung des Zusammenhalts, die Verantwortung des Einzelnen für das ganze System. Wir haben in den verbleibenden Tagen noch zwei inspirierende Gespräche zu Politik und buddhistischer Spiritualität mit LyonpoNorbuWangchuk (Minister für Bildung zwischen 2013 und 2018) und KhedrupRinpoche, einem jungen buddhistischen Meister aus Zentral-Bhutan. In beiden Gesprächen spüren wir, dass die Menschen in Bhutan keinesfalls in einem verwunschenen „Shangri-La“ fernab der Krisen und der Zerrissenheit dieser Welt leben. Tief geprägt durch buddhistische Werte der Achtsamkeit, des bewussten Führens und der Liebe zu allen Wesen erlebt man indes eine Fürsorge und einen bodenständigen Realismus, der sich wohltuend vom chauvinistischen Machtgehabe in einigen Nachbarländern Bhutans angenehm abhebt.

Zentrales Thema der spirituellen Maskentänze in Bhutan ist das Tibetische Totenbuch – das BardoThödol. „Bardo“ beschreibt sinngemäß den Zustand zwischen Tod und Wiedergeburt, der nach der buddhistischen Lehre 49 Tage währt. In den rund 30 Tagen seit unserer Rückkehr aus Bhutan ist die gesamte Welt zu einem Stillstand gekommen und wir finden uns gerade alle in einem Zwischenzustand wieder – der zufällig auch mit der österlichen Fastenzeit im Christentum zusammenfällt.  Ich wünsche uns, dass wir von der spirituell tief verwurzelten, menschlichen Widerstandskraft dieses kleinen Landes hoch oben im Himalaya-Gebirge lernen, wenn sich die Nebel der Corona-Pandemie lichten.

Doshula-Monument

Tigers-Nest

Unsere Reise-Gruppe mit unserem Tour-Guide Choki

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